7. Kapitel
Ein Wiener Bürgerhaus
Weihnachtsabend im Hause des Hofrates Franz Spineder. Weit draußen in Grinzing,
außerhalb der Endstation der Straßenbahn, lag das kleine, gelbe
Backsteinhäuschen, das der Hofrat noch von seinem Großvater ererbt hatte. Von
außen sah das einstöckige Haus mit dem großen grün gestrichenen Holztor und den
grünen Jalousien fast primitiv aus, aber wenn man das Tor öffnete und in den Hof
mit dem altertümlichen Ziehbrunnen trat, blieb man überrascht und entzückt
stehen. Der Hof ging in einen sanft ansteigenden Garten über, der schier endlos
war. Im Sommer leuchteten die Levkojen, Tulpen, Rosen und Nelken in südlicher
Pracht, hinter dem Ziergarten kamen Hunderte von Bäumen, die unter der Last der
Äpfel, Birnen, Aprikosen, Pflaumen und Kirschen sich tief zur Erde beugten, und
wenn man auch die Obstbäume hinter sich hatte, so war man noch immer nicht am
Ende des Gartens, sondern ging steil durch einen Weinberg, um endlich ganz oben
auf ein altwienerisches Lusthäuschen mit bunten Scheiben zu stoßen.
Köstlich wie der unvermutete Garten war auch die Einrichtung der Wohnzimmer.
Uralte, behagliche, steife und graziöse Möbel aus der Barock-, Kongreß- und
Biedermeierzeit, kostbare Stiche und Bilder an den Wänden, zwei echte
Waldmüller, ein Schwind im Salon, bunte, schöne Gläser, Altwiener Porzellan,
funkelndes Silbergerät in den Vitrinen und Kredenzen, und man brauchte nur die
Augen zu schließen, um die Männer und Frauen im Kostüm der Maria Theresianischen
Zeit und Biedermeierrock vor sich zu sehen.
Franz Spineder war Beamter, wie es sein Vater und sein Großvater gewesen, aber
er war auf den Gehalt eines Hofrates im Unterrichtsministerium nicht angewiesen,
sondern recht vermögend, und schon das Haus mit dem riesigen Garten und der
kostbaren Einrichtung repräsentierte heute einen nach vielen Millionen zählenden
Wert. Außerdem aber war seine Frau eine geborene Halbhuber, deren Urgroßväter
schon als Gerber und Lederfabrikanten soliden Reichtum erworben hatten. Und da
das Ehepaar Spineder nur mehr ein Kind, die jetzt knapp achtzehnjährige Lotte,
besaß, so konnte es inmitten der Wirrnisse einer zerrissenen Zeit und aller
Teuerung zum Trotz sein behagliches Leben führen.
Schweigend schmückten Lotte und Frau Spineder den Weihnachtsbaum, befestigten an
den duftenden Zweigen die Schokoladekringeln, Bonbons, Glaskugeln und Kerzen.
Frau Spineder, noch immer eine hübsche, runde Frau, sah die blonde, schlanke,
auffallend schöne und liebreizende Tochter von der Seite an.
»Lotte, nun hast du schon wieder Tränen in den Augen! Bedenk' doch, daß Papa
heute wenigstens fröhliche Gesichter sehen will und mach' dem armen Leo das Herz
nicht noch schwerer.«
Lotte ließ einen kleinen Rauchfangkehrer aus Schokolade fallen, daß sein Kopf
fortrollte, schlug die Hände vor das Gesicht, lehnte sich an die Schulter der
Mutter und begann bitterlich zu schluchzen.
»Mutter, mir bricht das Herz! Du wirst sehen, ich werde es nicht überleben, daß
Leo in die Fremde fort muß! Mutter, laßt mich doch mit ihm ziehen!«
Frau Spineder, der selbst das Wasser in den Augen stand, streichelte zärtlich
das weiche, wie Gold leuchtende Haar der Tochter.
»Lotte, es geht nicht! Bedenk' doch, Papa ist sechzig und er hat, seit uns der
unselige Krieg den Sohn genommen, niemanden als dich. Du kannst es ihm nicht
zumuten, daß er dich in die ungewisse Zukunft ziehen läßt, so gern er ja auch
den Leo hat. Schau nur, Leo wird nach Paris ziehen; bei der Entwertung der Krone
könnten wir euch unmöglich mit Francs unterstützen und ihr würdet vielleicht ins
Elend kommen, ohne daß Papa helfen kann. Leo wird sich allein schon
durchschlagen und ihr seid ja noch beide so jung, daß ihr auf andere, bessere
Zeiten warten könnt. Still jetzt, der Vater kommt! Und es klingelt, der Leo wird
auch schon da sein.«
Herr Spineder, der jetzt eintrat, um die Kerzen anzuzünden, war der Typus des
alten österreichischen Hofrates in seiner besten Art. Musik liebend und
ausübend, voll innerlicher Kultur, gepflegt von außen und innen, ein
Schönheitssucher, Lebensfreund und Lebensbejaher, rechtlich, gewissenhaft,
tolerant und dabei doch ein wenig beschränkt, bedächtig und zögernd. Er trug
auch jetzt noch den veralteten Kaiserbart, weil er es unter seiner Würde hielt,
dem Umschwung der Verhältnisse an seiner Person Konzessionen zu machen, er war
Demokrat durch und durch, ein treuer Diener der Republik, aber das schöne
Kaiserbild von Angeli hing noch immer über seinem Schreibtisch. Wie er jetzt
eintrat, war der alte Herr mit den schlohweißen Haaren und den milden graublauen
Augen der echte Altösterreicher, den man bald nur mehr aus Büchern kennen wird.
»Leo ist draußen und kratzt sich den Schnee von den Sohlen ab«, sagte Hofrat
Spineder, während er die Kerzen bedächtig anzündete. »Geht hinaus zu ihm, ich
werde die Bescherung machen und klingeln, wenn es so weit ist.«
Frau Spineder sah noch rasch in die Küche nach dem Karpfen, der Sachertorte und
den Krapfen; Lotte hing aber schon am Halse Leos und schluchzte wortlos an
seiner Brust.
Leo Strakosch, schlank, dunkelhaarig, glattrasiert, mit lebhaften braunen Augen,
aus denen Klugheit und Humor blitzten, war um zehn Jahre älter als Lotte. Im
letzten Kriegsjahre war er als Einjähriger eingerückt und im Felde hatte er den
gleichaltrigen Rudolf Spineder, den Sohn des Hofrates, kennen und als Freund
lieben und schätzen gelernt. In der letzten Piaveschlacht hatte Rudolf einen
Kopfschuß bekommen und in den Armen des Freundes seine junge Seele ausgehaucht,
nachdem er ihn gebeten, die Eltern und das Schwesterchen zu grüßen. So war Leo
in das Haus des Hofrates gekommen, der arme Sohn eines kleinen Agenten fühlte
sich in dem vornehm-bürgerlichen Milieu unendlich wohl, und als Lotte aus einem
Kinde ein blühendes, schönes Mädchen wurde, stand es in ihm fest: Diese oder
keine! Lotte erwiderte die Liebe des lebhaften, geistvollen, begabten jungen
Mannes von ganzem Herzen.
Hofrat Spineder sah die Entwicklung dieser Liebe und hatte nichts einzuwenden.
Leo Strakosch war Radierer, in jungen Jahren schon ganz außerordentlich
erfolgreich, man begann sich um seine Zeichnungen zu reißen, eine vor einem Jahr
erschienene Leo-Strakosch-Mappe erregte Aufsehen auch im Ausland, und der Hofrat
wie seine Frau sagten sich mit Recht, daß sie ihr Kind in keine besseren Hände
würden geben können als in die Leos, den sie nach und nach liebten wie ihren
eigenen Sohn. Daß Leo Jude war, focht den Hofrat nicht im mindesten an. In
seinem Hause verkehrten viele Musiker, Literaten, Maler, die Mehrzahl von ihnen
waren Juden, und der verstorbene Rechtsanwalt Viktor Rosen war sogar der
intimste Freund Spineders gewesen.
Als vor Jahresfrist zuerst in politischen Kreisen von dem Plan des Führers der
Christlichsozialen, ein Antijudengesetz durchzubringen, geraunt wurde, hatte
Hofrat Spineder daran nicht glauben wollen und können. Und als er daran glauben
mußte, war seine Empörung maßlos gewesen. Und noch größer sein Schmerz über den
Schicksalsschlag, den die bevorstehende Ausweisung Leos für seine Tochter
bedeutete. Den Gedanken aber, seine Lotte mit Leo ins Exil ziehen zu lassen,
wies er weit von sich, die Liebe zu seinem einzigen Kinde und der Egoismus des
Alternden vereinigten sich hier und machte ihn absolut unerbittlich.
Die Bescherung war sehr reichlich ausgefallen, Lotte von den Eltern freigebig
bedacht worden, aber sie schenkte dem Pelzkragen, den Seidenstrümpfen, den
Büchern und Noten kaum einen Blick, sondern preßte immer wieder das kleine Bild
Leos, das er ihr in einem goldenen Medaillon geschenkt, an die zuckenden Lippen.
Man saß nun beim festlich geschmückten Tisch, aber es herrschte eher Trauer als
Feststimmung und vergeblich versuchte der Hofrat ein leichtes Gespräch zu
entwickeln. Als dann der selbstgekelterte goldgelbe Wein kredenzt wurde, erhob
Hofrat Spineder sein Glas und sagte mit bewegter Stimme:
»Dein Wohl, Leo! Möge das Glück dich auch in der Fremde begleiten, möge das
Schicksal in absehbarer Zeit uns alle wieder vereinigen! Kinder, ich weiß, daß
ihr mir grollt und ich kann doch nichts tun, als mit euch leiden. Seht, Mutter
und ich haben den besten Teil des Lebens hinter uns, ich stehe an der Schwelle
des Greisenalters, und so ist es doch nur natürlich, wenn wir uns mit allen
Fasern dagegen sträuben, den letzten Sonnenstrahl, der uns noch leuchtet,
fortziehen zu lassen. Aber selbst wenn wir solcher schier übermenschlicher
Selbstlosigkeit fähig wären, würde mich das Pflichtgefühl davon abhalten. Lebten
wir in normalen Zeiten, so ließ ich euch ziehen und würde sagen, daß wir ja
schließlich alljährlich ein paar Monate bei euch in Paris zubringen können. Aber
das ist heute unmöglich, da die Krone fast wertlos ist. Nur Spekulanten können
sich noch solchen Luxus leisten, und ihr wißt, daß wir in guten geordneten
Verhältnissen leben, aber doch mit jedem Tausendkronenschein rechnen müssen.
Würde Lotte jetzt mit dir in die Fremde gehen, so müßte sie das Elternhaus für
immer verlieren. Und nicht nur sie, sondern auch euere Kinder wären entwurzelt,
vaterlandslos, würden nicht wissen, wo ihre Großeltern in der Erde ruhen. Und
wer weiß, es würde der Tag vielleicht kommen, wo du, Lotte, von solcher
Heimatssehnsucht erfüllt wärest, daß sie deine Liebe zum Gatten verdrängen und
dein ganzes Wesen sich in einen bitteren Vorwurf gegen den, dem du in die
Verbannung gefolgt, wandeln würde. Ihr seid beide jung, du, Lotte, bist fast
noch ein Kind, du Leo, ein Jüngling und das ganze Leben liegt vor euch. Lasset
ein paar Jahre vergehen, vielleicht seid ihr dann voneinander losgekommen oder
aber es treten Entwicklungen ein, die euch doch noch vereinigen.«
Während Lotte fassungslos weinte und mit ihr ihre Mutter, hob nun auch Leo sein
Glas.
»Vater, so darf ich dich ja doch wohl noch nennen, ich muß die Gründe deiner
Weigerung, Lotte mit mir ziehen zu lassen, würdigen, wahrscheinlich würde ich an
deiner Stelle nicht anders handeln. Aber eines sage ich dir, sage ich Lotte, die
ich nie aufhören werde zu lieben: Mein Leben wird von nun an ein einziger Kampf
werden! Man sagt meinem Volke Zähigkeit nach – nun so will ich die ganze
Fähigkeit meines Volkes in mir vereinigen. Mit Kopf und Herz, mit meinem ganzen
Können und Wollen werde ich darauf hinarbeiten, Lotte zu gewinnen, so oder so!
Man kann mich vertreiben wie einen räudigen Hund, man kann aber den Willen in
mir nicht töten! Und ich leere mein Glas auf euer Wohl und auf unsere
Vereinigung, die früher kommen wird, als wir alle heute zu hoffen wagen!«
Am nächsten Tage fuhr Leo Strakosch mit einem Zuge fort, der sich zum großen
Teil aus geistigen Arbeitern und Künstlern zusammensetzte. Hofrat Spineder, Frau
Spineder und Lotte gaben ihm das Geleite. Außer ihnen ließ Leo nichts zurück,
was ihm wert war, da seine Eltern längst nicht mehr lebten.
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