6. Kapitel
Doktor Schwertfeger
Der Bundeskanzler, der auch Minister für auswärtige Angelegenheiten war und
seine Wohnung im Auswärtigen Amte hatte, stand an einem milden Septembertag an
der offenen Balkontüre und sah über die Straße hinweg auf das Getriebe des
Volksgartens. Aber dieses Treiben schien ihm weniger lebhaft zu sein als in den
vergangenen Jahren, die weißlackierten Kinderwägelchen rollten nur vereinzelt
durch die Alleen, die Sesselreihen und Bänke waren trotz des warmen Wetters nur
spärlich besetzt.
Es klopfte, der Kanzler rief scharf: »Herein!« und stand nun seinem
Präsidialchef, dem Doktor Fronz, gegenüber.
Schwertfeger war Ende Juni, kurz nach der Annahme des Ausweisungsgesetzes, nach
Tirol gefahren, um seine unter der Last der Verantwortung und Arbeit fast
zusammengebrochenen Nerven zu erholen. In einem Dorf am Arlberg blieb er mehr
als zwei Monate inkognito, niemand außer seinem Präsidialchef kannte seinen
Aufenthalt, er ließ sich weder Briefe noch Akten nachschicken, kümmerte sich
nicht um die Zeitereignisse, und nur von ganz eminent wichtigen Vorfällen durfte
ihm Fronz schriftlich Mitteilung machen. Tatsächlich war ja für alles
vorgesorgt, der Wiener Polizeipräsident wie die Bezirkshauptleute hatten ihre
genauen Instruktionen, das Parlament war bis zum Herbst vertagt, also fühlte
sich Dr. Schwertfeger entbehrlich, ja er hielt es für seine Pflicht, neue Kräfte
zu sammeln, um der kommenden Arbeit frisch und stark gegenübertreten zu können.
Heute vormittag war er nach Wien zurückgekehrt und nun mußte ihm Fronz gründlich
referieren. Nachdem verschiedene Personalangelegenheiten erledigt waren, ließ
sich Schwertfeger schwer und wuchtig vor seinem Schreibtisch nieder, nahm Papier
und Feder, um sich stenographische Notizen zu machen und sagte äußerlich ruhig
und kalt, während vor Spannung jeder Nerv in ihm vibrierte:
»Nun, lieber Freund, berichten Sie mir über den bisherigen Vollzug des neuen
Gesetzes und seine sichtbaren Folgen. Wie ist unsere Finanzlage? Sie wissen, ich
bin völlig unorientiert.«
Dr. Fronz räusperte sich und begann:
»Finanztechnisch verläuft nicht alles so glatt, wie wir hofften. Zuerst stieg
unsere Krone in Zürich sprunghaft bis auf ein Hundertstel Centime, dann traten
leise, wenn auch unbedeutende Schwankungen ein, seit Ende Juli rührt sich trotz
des starken Goldzustromes aus den Tresoren der großen christlichen Vereine und
des Bankiers Huxtable unsere Krone nicht, sie beharrt auf ihrem Julikurs.
Merkwürdigerweise erfüllen sich vorläufig unsere Hoffnungen auf enorme
Geldabgaben seitens der Ausgewiesenen nicht. Es fließen den Steuerämtern weder
große Beträge in Kronen noch in fremden Währungen zu. Es scheint, daß sich unter
unseren christlichen Mitbürgern Tausende von Parasiten befinden, die in
gewissenloser Weise die überschüssigen, der Besteuerung hinterzogenen Vermögen
der Juden an sich nehmen und den Juden dafür Abstandsummen in Gestalt von
Anweisungen an ausländische Banken geben.«
»Das war nicht anders zu erwarten«, sagte der Kanzler, während ein verächtliches
Lächeln um seine zusammengekniffenen Lippen spielte.
»Ob Jud' oder Christ – habgierig und selbstsüchtig sind sie alle!«
Das dürften die Judenblätter nicht erfahren, dachte Fronz und fuhr fort:
»Wie ich aus dem sehr pessimistischen Referat des Finanzministers Professor
Trumm folgern darf, wird uns die Ausweisung der Juden mit ungeheuren Schulden,
in Gold rückzahlbar, belasten, unseren Banknotenumlauf aber in keiner
nennenswerten Weise vermindern.«
»Geht die Liquidierung und Übergabe der Finanzinstitute, Banken und
Aktiengesellschaften glatt vor sich?«
»In dieser Beziehung ist alles in vollem Gange, aber leider zeigt es sich, daß
unsere einheimischen Kapitalisten entweder nicht willens oder nicht in der Lage
sind, die großen Unternehmungen an sich zu reißen, so daß überwiegend Ausländer
als Übernehmer in Betracht kommen. Die Länderbank, die Kreditanstalt, die
Anglobank, die Escompte-Gesellschaft und andere Großbanken gehören bereits
Italienern, Engländern, Franzosen, Tschechoslowaken und so weiter, desgleichen
unsere großen Industrieunternehmungen. Eben hat ein holländisches Konsortium die
Simmeringer Lokomotivfabrik übernommen. Wir passen natürlich höllisch auf, daß
sich auf solchem Umweg nicht ausländische Juden hier einnisten, und jeder
Kaufvertrag weist nachdrücklich auf die Klausel hin, wonach auch ausländische
Juden keinerlei Aufenthaltsrecht in Österreich genießen, weder dauerndes noch
vorübergehendes. Daß die Aktionäre und Direktoren der fremden Gesellschaften,
die hier aufkaufen, zum Teile Juden sind, läßt sich aber nicht vermeiden.«
Der Kanzler stützte die mächtige, gewölbte Stirne in die knochige Hand, wischte
dann peinliche Gedanken mit einer Handbewegung fort und sagte gleichmütig:
»Übergangserscheinungen, denen späterhin abzuhelfen sein wird! Wie vollzieht
sich die Ausweisung?«
»Genau nach den Durchführungsbestimmungen des Gesetzes! Sowohl die Polizei als
auch das Verkehrsamt arbeiten vortrefflich, täglich verlassen ungefähr zehn Züge
mit Ausgewiesenen Österreich nach allen Richtungen und bis heute haben etwa
vierhunderttausend Juden das Land verlassen.«
Schwertfeger blickte überrascht auf »Wie ist das möglich? Wir haben an ungefähr
eine halbe Million Auszuweisender gedacht! Also wären jetzt, nach einem Drittel
der präliminierten Zeit, vier Fünftel erledigt?«
Dr. Fronz lächelte dünn. »Wir haben eben die große Zahl der Konvertiten und
Judenstämmlinge unterschätzt! Heute hat die Staatspolizei mehr Überblick und sie
rechnet nun nicht mehr mit einer halben Million, sondern mit achthunderttausend,
vielleicht sogar mit einer Million Menschen, die unter das Gesetz fallen! Bei
dieser Gelegenheit möchte ich bemerken, daß sich gewisse devastierende, oft sehr
peinliche oder auch nur groteske Folgen der Ausweisung zeigen. Zehn
christlichsoziale Nationalräte müssen als Judenstämmlinge landesverwiesen
werden, beinahe ein Drittel der christlichen Journalisten wird entweder direkt
oder in seinen Familienmitgliedern betroffen, es stellt sich heraus, daß unsere
besten christlichen Bürger vom Judentum durchtränkt sind, uralte Familien werden
auseinandergerissen, ja es hat sich etwas ereignet, was schallendes Gelächter
nicht nur in den Judenblättern, die ja noch bis zum letzten Augenblick hetzen
werden, erregt, sondern auch in der Presse des Auslandes. Eine Schwester des
Fürsterzbischofs von Österreich, Kardinal Rößl, ist mit einem Juden verheiratet,
sein Bruder aber mit einer Jüdin, so daß seine Eminenz durch das Gesetz
sämtlicher Neffen, Nichten und Geschwister beraubt wird. Vielleicht wird es sich
doch empfehlen, unter solchen Umständen der Nationalversammlung ein Amendement
zu dem Gesetz zu unterbreiten, durch das die Ausweisung von Judenstämmlingen
unter gewissen Umständen unterbleiben darf – –.«
Der Bundeskanzler sprang in die Höhe und schlug mit der geballten Faust auf den
Schreibtisch, daß die Tinte hochspritzte.
»Nie und nimmer, wenigstens nicht, solang ich im Amte bin! Eine solche
Ausnahmsbestimmung würde das ganze Gesetz zum Weltwitz machen, wir wären bis auf
die Knochen blamiert, das internationale Judentum würde triumphieren wie noch
nie in seiner Geschichte, der Korruption, der Bestechlichkeit wäre Tür und Tor
geöffnet! Sie kennen ja die gewissen Herren Hof- und Sektions- und
Regierungsräte mit den offenen Händen und leeren Taschen! Nein, es darf keine
Ausnahmen geben, das Leid und der Kummer einzelner Familien darf an den
Grundmauern des Gesetzes nicht rütteln! Im Namen der Habsburger wurde ein Krieg
geführt, der einer Million Männer das Leben gekostet hat und man hat nicht zu
mucksen gewagt! Was ist im Vergleich dazu die Tatsache, daß ein paar tausend
oder vielleicht hunderttausend Menschen Unbequemlichkeit und Ärger verursacht
wird? Ich bitte Sie, in diesem Sinne die christlichen Blätter zu instruieren.
Besser noch, wenn die politische Korrespondenz sofort eine diesbezügliche
Enunziation der Regierung den Blättern zugehen läßt. Und Sie bitte ich dringend,
sich nicht mehr zum Sprachrohr solcher Einflüsterungen machen zu lassen!«
Dr. Fronz verbeugte sich erblassend.
»Dann ist es ja auch überflüssig, wenn ich Euer Exzellenz von furchtbaren
Jammerszenen berichte, die sich täglich bei der Abfahrt der Evakuierungszüge
beobachten lassen und die oft solche Dimensionen annehmen, daß selbst der
Straßenpöbel, der sich zur Abfahrt der Züge mit der Absicht einzufinden pflegt,
die Ausgewiesenen zu beschimpfen, ergriffen schweigt und Tränen vergießt – –.«
»Solche Szenen waren vorhergesehen und sind unvermeidlich! Instruieren Sie
sofort die Polizei dahin, daß die Bahnhöfe abgesperrt werden, die Abfahrt der
Züge tunlichst nur zur Nachtzeit erfolgt und nicht von den Hauptbahnhöfen,
sondern von den außerhalb der Stadt gelegenen Rangierbahnhöfen. Und nun nur noch
eine Frage: Wie nimmt die Bevölkerung im allgemeinen die Durchführung des
Gesetzes auf?«
»Mit größter Begeisterung natürlich! Die Polizei läßt hundert geschickte Agenten
sich anonym in die Volksmengen mischen und Beobachtungen sammeln. Nun, die
Berichte gehen übereinstimmend dahin, daß die christliche Bevölkerung sich
geradezu in einem Freudentaumel befindet, eine baldige Sanierung der
Verhältnisse, Verbilligung der Lebensmittel und gleichmäßigere Verbreitung des
Wohlstandes erwartet. Auch innerhalb der noch sozialdemokratisch organisierten
Arbeiterschaft ist die Befriedigung über den Fortzug der Juden groß. Aber
andererseits läßt sich nicht verhehlen, daß die Bevölkerung erregt und unsicher
ist. Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird, die Massen leben in den Tag
hinein, eine ganz staunenswerte Verschwendungssucht in den unteren Klassen macht
sich bemerkbar und die Zahl der Trunkenheitsexzesse mehrt sich von Tag zu Tag.
Zur Gehobenheit der Stimmung trägt aber sehr wesentlich der Umstand bei, daß die
Wohnungsnot mit einem Schlage aufgehört hat. Allein in Wien sind seit Beginn des
Monates Juli vierzigtausend Wohnungen, die bisher Juden innehatten, frei
geworden. Eine direkte Folge davon ist, daß eine wahre Hochflut von Trauungen
eingesetzt hat und die Priester zehn und zwanzig Paare gleichzeitig einsegnen
müssen.«
Schwertfeger, der Junggeselle geblieben war, nickte befriedigt lächelnd. »Damit
wären wir also für heute fertig. Ich bin nun halbwegs im Bilde und werde jetzt
die Referate der einzelnen Bundesministerien durchstudieren.«
Ein Kopfnicken und der Präsidialchef war entlassen. Fronz blieb aber noch stehen
und lenkte die Aufmerksamkeit des Kanzlers, der schon ein Aktenfaszikel
aufgeschlagen hatte, durch diskretes Räuspern auf sich.
»Ich möchte Exzellenz noch darauf aufmerksam machen, daß der Wiener Gemeinderat
mit großer Stimmenmehrheit beschlossen hat, den Schottenring in
Doktor-Karl-Schwertfeger-Ring umzutaufen und daß seitens dreihundert
österreichischer Gemeinden ähnliche Umtaufungen von Plätzen und Straßen
beschlossen wurden. In Innsbruck hat sich sogar ein Denkmalkomitee gebildet, das
Eurer Exzellenz im nächsten Jahr schon ein Denkmal aus Laaser Marmor errichten
will.«
Der Kanzler stand auf, ging zum Balkon, sah wieder auf den Volksgarten hinab,
schritt mit wuchtigen Tritten schwer und plump zweimal durch den großen Raum und
sagte dann:
»Inhibieren Sie alle solche Ehrungen! Sie sollen verschoben werden bis zum
zehnjährigen Jubiläum der Befreiung Wiens von den Juden!«
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