8. Kapitel
»Meine lieben Christen!«
Der letzte Jahrestag wurde für Wien zu einem Festtag, wie ihn die lustige und
leichtsinnige Stadt noch nie erlebt hatte. Unter Aufbietung aller
Verkehrsmittel, mit Hilfe von Lokomotiven, die aus den Nachbarstaaten entliehen
waren, bei Einstellung jedes sonstigen Personen- und Güterverkehres war es
gelungen, an diesem Tag in dreißig riesigen Trains die letzten Juden
fortzubringen. Vormittags fuhren die Direktoren und leitenden Funktionäre der
Großbanken, mittags die jüdischen Journalisten mit ihren Familien. Sie hatten
bis zum letzten Augenblicke ausgeharrt, noch die Abendblätter waren von ihnen
geschrieben und redigiert worden, und erst als die feuchten Blätter aus den
Rotationsmaschinen flogen, rückten die neuen Herren in die Redaktionsstuben ein.
Die Mehrzahl der Wiener Journalisten hatten Engagements bei reichsdeutschen und
deutschböhmischen Blättern gefunden, viele wanderten nach Amerika aus, einige
wenige beschlossen, sich anderen Berufen zuzuwenden. – Der Herausgeber der
großen »Weltpresse« aber übersiedelte mit einem kleinen Stabe von Mitarbeitern
nach London, um dort unter dem Titel »Im Exil« eine deutsche Wochenschrift, die
sich in erster Linie mit Österreich befassen sollte, erscheinen zu lassen.
Um ein Uhr mittags verkündeten Sirenentöne, daß der letzte Zug mit Juden Wien
verlassen, um sechs Uhr abends läuteten sämtliche Kirchenglocken zum Zeichen,
daß in ganz Österreich kein Jude mehr weilte.
In diesem Augenblicke begann Wien sein großes Befreiungsfest zu feiern. Von
hunderttausend Häusergiebeln wurden die rotweißroten Fahnen gehißt, Tücher in
diesen Farben schmückten alle Geschäfte, Lampions vor allen Fenstern wurden
entzündet, und bei sternenheller Frostnacht zog eine Million Menschen über den
knisternden Schnee, um sich zu Zügen zu vereinigen. Männer, Frauen und Kinder
trugen Lampions, Musikkapellen marschierten den einzelnen Bezirksgruppen voran,
ein Jauchzen und Jubeln ertönte, und immer wieder zerriß der Ruf »Es lebe das
christliche Wien« die Luft!
Treffpunkt aller Züge war das Rathaus. In feenhafter Pracht lag der schöne
gotische Bau Meister Schmidts da. Millionen elektrischer Lichter ließen ihn wie
eine einzige Flamme leuchten. Auf einer Tribüne spielten die unvergleichlichen
Wiener Philharmoniker, von Juden gesäubert und daher ein wenig reduziert,
volkstümliche Weisen, und der Wiener Männergesangverein bot seine besten Lieder
dar. Die Volkshalle, der große Platz vor dem Rathaus, der Ring vom Schottentor
bis zur Bellaria bildeten eine einzige Menschenmauer, und um acht Uhr war es
kein Rufen mehr, sondern ein Heulen aus einer Million Kehlen, das immer wieder
erdröhnte.
Endlich kam der große Moment. Bürgermeister Karl Maria Laberl erschien mit dem
Bundeskanzler Dr. Schwertfeger auf dem Balkon. Der Bundeskanzler ergriff zuerst
mit machtvoller Stimme, die sich bis jenseits des Ringes Gehör verschaffte, das
Wort. Er sprach kurz, trocken, aber um so wirkungsvoller:
»Mitbürger, ein ungeheures Werk ist vollendet! Alles das, was in seinem
innersten Wesen nicht österreichisch ist, hat die Grenzen unseres kleinen, aber
schönen Vaterlandes verlassen! Wir sind nun allein unter uns, eine einzige
Familie, wir sind fürderhin auf uns und unsere Eigenart gestellt, mit eigener
Kraft werden wir unser gesäubertes Haus frisch bestellen, morsche Mauern
stützen, geborstene Pfeiler aufbauen. Wiener und Brüder aus dem ganzen
Bundesstaat! Wir feiern heute ein Fest, wie es noch nie gefeiert wurde. Morgen
beginnt ein neues Jahr und für uns alle ein neues Leben. Morgen dürfen wir noch
ruhen und uns beschaulich besinnen. Dann aber müssen wir arbeiten, wie wir noch
nie gearbeitet haben. Unser ganzes Können müssen wir unserem Vaterlande widmen,
jede Stunde muß genützt werden. Wir werden der ganzen Welt zeigen müssen, daß
Österreich auch ohne Juden leben kann, ja daß wir eben deshalb gesunden, weil
wir das Fremde aus unserem Blutkreislauf entfernt haben. Mitbürger, schwört es
mir in dieser feierlichen Stunde in die Hand, daß wir alle nicht mehr schweigend
in den Tag hineinleben wollen, sondern arbeiten, arbeiten und nichts als
arbeiten, bis uns die Früchte unserer Arbeit erblüht sind.«
Und der Ruf. »Wir schwören es!« brauste auf, fremde Menschen schüttelten
einander die Hände, Männer und Frauen sanken einander weinend und lachend in die
Arme, die neue Volkshymne wurde intoniert und mitgesungen und dann erklang ohne
Verabredung und doch wie aus einem Munde das »Hoch unser Doktor Schwertfeger,
der Befreier Österreichs!«
Als sich der Jubel und Tumult ein wenig gelegt hatte, kam endlich auch
Bürgermeister Herr Karl Maria Laberl zum Wort. Er begann seine Ansprache mit den
Worten:
»Meine lieben Christen! – –«
Aber viel mehr vernahm die Menge nicht, denn dem warmen Föhn, der seit Minuten
durch die vorher noch so kalte Nacht fegte, folgte in diesem Augenblick ein
Regenguß, und schreiend, kreischend zerstreute sich die Menschenmasse, um durch
ein Meer von Kot und zerflossenem Schnee zu den Straßenbahnen zu eilen.
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