4. Kapitel
Ein Schuß
In der Villa des Schriftstellers Herbert Villoner in Alt-Aussee war der
Freundeskreis versammelt. Literaten von bekanntem Namen, Maler, Bildhauer,
Musiker, Verleger. Sonst pflegten sie erst im Hochsommer die Sommerfrische
aufzusuchen, diesmal hatten sie schon im Juni die Stadtflucht ergriffen, um von
den politischen Schmutzwellen wenigstens nicht unmittelbar bespritzt zu werden.
Es war nach dem Abendessen, man saß in Korbstühlen auf der Terrasse, blickte auf
den lieblichen See, in dem sich der Mond spiegelte, der Rauch der Zigaretten
kräuselte in der unbeweglichen Luft empor, jeder war in seine Gedanken
versunken. Villoner unterbrach das tiefe Schweigen.
»So ist denn kein Zweifel mehr, daß die meisten von uns zum letztenmal den
Sommer in Aussee verbringen werden und daß wir wie vagabundierende Strolche den
Staub von unseren Stiefeln werden schütteln und in die Fremde gehen müssen. Wie
seltsam! Mein Vater, ein berühmter Kliniker, der nicht wenig zum Ruhm der Wiener
medizinischen Schule beitrug, mein Großvater, schon ein erbangesessener Kaufmann
vom Mariahilfer Grund und ich selbst. – Nun, man behauptet, daß ich in meinen
Dramen und Romanen das Wiener Wesen tief erfaßt und wie kein anderer die Wiener
Jugend, das süße Mädel erkannt und geschildert habe. Und nun ist das alles
nichts gewesen, ich bin einfach ein fremder Jude, der hinaus muß, wie irgendein
galizischer Flüchtling, den eine Spekulationswelle nach Wien verschlagen!«
»Immerhin«, sagte der junge Lyriker Max Seider leise mit zitternder Stimme,
»immerhin, Sie werden auch fern von der undankbaren Heimat sich wohl fühlen
können. Berlin wird Sie mit offenen Armen aufnehmen, schon sind dort unter den
Intellektuellen besondere Ehrungen für Sie geplant, und Sie sind so reif und
stark, daß Sie mächtige Zweige werden treiben können, wo immer Sie sind. Aber
was soll ich tun? Ich bin erst am Anfang, und ich kann nur leben und arbeiten,
wenn ich durch das grüne Gelände des Wienerwaldes schlendere, wenn ich als
Wegweiser die zierliche Silhouette des Kahlenberges vor mir sehe. Aus Ihnen
strömt des Lebens Quelle in unerschöpflichem Maß, ich muß um jede Zeile, um
jeden Vers mit mir ringen und kämpfen und das kann ich nur in Wien.«
»Ach was«, schrie der Komponist Wallner ergrimmt, »der Teufel soll dieses Wien
mit seiner vertrottelten Bevölkerung holen! Ich geh' nach Süddeutschland, miete
mir ein Häuschen im Schwarzwald und werde dort mit meiner Lene herrlich leben.
Was, Schatz?«
Seine blonde junge Frau ließ es ruhig geschehen, daß der Gatte ihr
Madonnenköpfchen an seine Schulter zog, aber ein boshaftes Lächeln huschte über
den üppigen Mund und ihre Blicke kreuzten sich verständnisvoll mit denen des
Schriftstellers Walter Haberer. Diesem schwellte Triumph die Brust. Er wußte,
die Frau des Komponisten blieb hier, niemand konnte sie zwingen, mit ihrem
Gatten ins Exil zu gehen, und verabredetermaßen würde sie endlich, wenn der Mann
erst fort, sein werden. Sein würde aber nicht nur sie werden, sondern ganz Wien,
ganz Österreich! Denn sie alle, hinter denen er zurückstehen mußte, sie alle,
deren Theaterstücke aufgeführt wurden, während die seinen jahrelang in den
Schubladen der Dramaturgen schliefen, sie alle, die gestern noch die großen
Modeschriftsteller gewesen waren, sie alle, der Villoner und der Seider, der
Hoff und der Thal, der Meier und der Marich, sie alle mußten fort und er blieb
allein als Herrscher im Reiche der Musen!
Frau Lene nickte ihm lächelnd zu, während der Gatte ihr liebkosend die Wangen
streichelte.
Donnernd und polternd lachte der große Schauspieler Armin Horch auf.
»Meine Herrschaften, nun muß es heraus! Auch ich werde Österreich verlassen
müssen! Denn ich, den die ›Wehr‹ und andere Zeitungen immer als den Verkörperer
des christlichen Schönheitsideales gepriesen haben, ich bin ein ganz
gewöhnlicher Judenstämmling! Mein Vater stammte aus Brody und hieß nicht Horch,
sondern Storch!«
Schallendes Gelächter ringsumher, Galgenhumor quoll auf, Scherze, die zur
Situation paßten, wurden erzählt.
»Na und Sie, Herr Pinkus, wohin werden Sie Ihren Buchverlag transferieren?«
fragte einer den dicken, kleinen Verleger mit den krummen Beinen und dem
prononziert jüdischen Gesicht.
»Ich? Ich bleibe! Ich bin doch Urchrist!«
Und als alles lachte, sagte er behaglich schmunzelnd: »Spaß beiseite, ich bin
ein waschechter Goi! Mein Großvater Amsel Pinkus war ein Tuchhändler in
Frankfurt am Main und ein braver, frommer Jude. Als er sich aber in meine
Großmutter, Christine Haberle, eine kleine Sängerin aus Stuttgart, verliebte,
ließ er sich, da sie anders nicht die Seine werden wollte, taufen. Nun, mein
Vater heiratete wieder eine Christin und so bin ich Christ in dritter
Generation, also werde ich nicht ausgewiesen, obwohl ich in Art und Äußerem ganz
entschieden ein Duplikat meines Großvaters bin.«
»Es lebe der Urchrist Pinkus,« rief der Hausherr belustigt und alle hoben
lachend die Gläser. Da klang vom See her ein Knall wie ein Peitschenhieb. Und
von seltsamer Ahnung ergriffen, rief Villoner: »Wo ist Seider?«
Aber schon brachten Leute die Leiche des jungen Lyrikers. Er hatte sich unten am
See erschossen, um seine müde, empfindsame Seele nicht in der Fremde frieren
lassen zu müssen.
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