18. Kapitel
Die Neuwahlen
Die Wahlen vollzogen sich unter einer Beteiligung, wie sie kaum jemals auf der
Welt erlebt worden. Greise, Kranke, Lahme kamen zu den Urnen, und nachmittags,
als die Wahllokale geschlossen wurden, wußte man, daß in Wien 99 Prozent der
Wahlberechtigten ihre Bürgerpflicht getan. Dann begann im ganzen Lande die
Zählung der Stimmen, die bis in die frühen Morgenstunden währte, und vormittags
verkündeten Extraausgaben der »Arbeiter-Zeitung« und der »Weltpresse« das
staunenswerte Resultat.
Den Christlichsozialen und Großdeutschen waren nur die Landbewohner treu
geblieben! Wien hatte fast ausschließlich die Kandidaten der Sozialisten und der
Bürgervereinigung gewählt, ebenso die kleinen Städte und das österreichische
Industriegebiet. Und so setzte sich denn das neue Parlament folgendermaßen
zusammen: siebzig Sozialdemokraten, sechsunddreißig Mitglieder der Vereinigung
der tätigen Bürger, dreißig Christlichsoziale und vierundzwanzig Großdeutsche.
Das ergab 106 Stimmen für die Aufhebung des Ausnahmsgesetzes gegen die Juden,
vierundfünfzig für die Aufrechterhaltung. Und damit schien der schöne Traum
Leos, der freisinnigen Bürger und Sozialdemokraten zerstört, denn es fehlte
ihnen genau eine Stimme zur Zweidrittelmajorität, ohne die eine Änderung der
Verfassung nicht vorgenommen werden konnte. Trotz ihrer vernichtenden
Niederlage, trotz der Tatsache, daß die Regierung sofort demissionieren und
einer sozialistisch-demokratischen weichen mußte, jubelten die Antisemiten, sie
veranstalteten Kundgebungen unter der Parole »Die Juden bleiben draußen!«.
Eine einzige Angst beherrschte die besiegten Sieger: Die Mehrheit hatte
verkündet, daß sie schon in der zweiten Sitzung des neugewählten Hauses, die in
acht Tagen stattzufinden hatte, den Dringlichkeitsantrag auf Aufhebung des
Judengesetzes und Wiederherstellung der Freizügigkeit für jedermann stellen
würde. Wie nun wenn ein Christlichsozialer oder großdeutscher Nationalrat der
Sitzung fernbleiben würde? An ein beabsichtigtes Fernbleiben war nicht zu
denken, aber schließlich konnte einer der Abgeordneten vom Lande krank werden
oder einen Unfall erleiden und dieser eine werde den Gegnern die
Zweidrittelmajorität sichern. Die unterlegenen Parteien ließen daher für
sämtliche gewählte Nationalräte aus ihrem Lager am Tage vor dem Zusammentritt
des Hauses Extrazüge mit je einem begleitenden Arzt bereitstellen. Auf diese
Weise glaubten sie sich vor jedem verhängnisvollen Zwischenfall sicher. Für Wien
selbst waren Vorsichtsmaßregeln nicht notwendig, denn in Wien war einzig und
allein der Häuseragent Herr Wenzel Krötzl von den Weinbauern und -wirten des
neunzehnten Bezirkes, denen es in dem judenreinen Wien sehr gut ging, gewählt
worden. Seiner war man in jeder Beziehung sicher, und er erfreut sich einer
vorzüglichen Gesundheit.
Dieser Herr Krötzl bildete nun die einzige und letzte Hoffnung Leos, während
Lotte unter der schweren Enttäuschung fast zusammenbrach. Sie weinte den ganzen
Tag, kaum daß sie noch die Energie aufbrachte, täglich zu Leo zu eilen, der sich
vergebens bemühte, ihr Mut und Hoffnung einzuflößen. Hofrat Spineder, der selbst
durch den Fortbestand des Judengesetzes schwer gekränkt und enttäuscht wurde,
kannte sich in seiner Tochter nicht mehr aus und begann ernstlich an ihrem
Verstand zu zweifeln. Sorgenvoll besprach er ihr merkwürdiges Verhalten mit
seiner Gattin.
»Was soll das alles heißen? Hat Leo vergessen, verbringt halbe Tage mit einem
neuen Verlobten, diesem Franzosen, den ich zu hassen beginne, ohne ihn zu
kennen, läßt sich von ihm beschenken, erklärt plötzlich, daß sie am liebsten
beide, den Leo und den Dufresne, nehmen würde, und nun, da Leo nicht
zurückkommen kann, sitzt sie da und weint sich die Augen aus dem Kopf Ich
glaube, das Mädel ist übergeschnappt!«
Frau Spineder seufzte tief
»Mein Lieber, ich kenne selbst mein Kind nicht mehr und habe keine Ahnung, was
in seinem Herzen vorgeht. Jedenfalls müssen wir, wenn sich zeigt, daß das
Judengesetz bestehen bleibt, darauf dringen, diesen Herrn Dufresne
kennenzulernen.«
Hofrat Spineder nickte.
»Jawohl! Und sollte sich Lotte abermals weigern oder die Sache hinauszuschieben
versuchen, so schicken wir sie zu Tante Minna nach Klagenfurt!«
Leo überlegte Tag und Nacht und hatte schließlich einen festen Plan gefaßt,
einen Plan, der entscheiden sollte, ob er weiterhin mit offenem Visier in Wien
bleiben konnte oder zurück nach Paris mußte. Fiel das Gesetz nicht, so wurde
seine Rückreise zwingende Notwendigkeit, da sein Freund Henry Dufresne, dessen
Namen er führte, jetzt selbst aus Südfrankreich wieder nach Paris übersiedeln
wollte und von da an die Gefahr einer Aufdeckung seines verwegenen Spieles
vorlag.
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