6. Kapitel
Das Ende des Mieterschutzes
Die »Weltpresse«, einst das Blatt des liberalen Bürgertums, jetzt das Hauptorgan
der christlich-sozialen Partei, erhielt eine Zuschrift von dem Besitzer des
Hauses Billrothstraße 19, in der in scharfer und logischer Weise gegen den
Fortbestand des Mieterschutzgesetzes Stellung genommen wurde. »Das
Mieterschutzgesetz«, hieß es in der Zuschrift, »hatte Zweck und Sinn, als
Wohnungsnot herrschte und die Bevölkerung davor geschützt werden mußte, durch
die Habgier einzelner Hausbesitzer obdachlos gemacht zu werden. Heute gibt es
keinen Mangel an Wohnungen mehr; dank dem segensreichen Antijudengesetz unseres
hochverehrten Bundeskanzlers sind wieder normale Verhältnisse eingetreten, es
ist der notwendige Überschuß an Wohnungen vorhanden, und so erübrigt sich dieses
Mieterschutzgesetz, das nur mehr einen brutalen Eingriff in die Rechte der
Hausbesitzer bildet, ja sogar einen Verfassungsbruch. Sicher werden nach
Aufhebung des Gesetzes Steigerungen der Mietzinse eintreten, was nur
gerechtfertigt wäre und schließlich der Allgemeinheit zugute käme, denn von den
höheren Mietzinsen sind höhere Steuern zu zahlen und mit höheren Mietpreisen
steigt der Wert der Häuser. Es ist charakteristisch, daß es ein in meinem Hause
wohnender, vornehmer französischer Künstler ist, der mir sein Entsetzen über
dieses Mieterschutzgesetz ausdrückte. Er erklärte, daß man sich in französischen
Kapitalistenkreisen über dieses Gesetz lustig mache, das unter anderem auch
verhindert, daß Ausländer ihr Geld in Wiener Häusern anlegen. Also fort mit dem
Mieterschutzgesetz! Die vornehme christliche Gesinnung der Wiener Hausbesitzer,
vor allem aber das Gesetz von Angebot und Nachfrage werden automatisch ein allzu
starkes Hinaufschnellen der Mietpreise verhindern.«
Die Zuschrift erschien an auffallender Stelle in der »Weltpresse« mit einem
redaktionellen Zusatz, in dem sehr vorsichtig die Ansicht des geehrten
Einsenders gebilligt, ihr aber gleichzeitig auch sanft widersprochen wurde. Denn
man wollte weder die Hausbesitzer noch die Mieter vor den Kopf stoßen.
Von da an begann ein lebhafter öffentlicher Gedankenaustausch, es hagelte von
Zuschriften, und immer stürmischer wurde der Ruf der Hausbesitzer nach Aufhebung
des Mieterschutzgesetzes, Einräumung des Kündigungsrechtes und der individuellen
Mietsteigerung. Herr Windholz, der Besitzer des Hauses in der Billrothstraße,
war plötzlich eine gewichtige Persönlichkeit geworden, der Verein der
Hausbesitzer wählte ihn zum Vorstand und täglich kam er zu seinem vornehmen
französischen Mieter, Herrn Dufresne, um sich bei ihm Rat zu holen. Herr
Strakosch, alias Dufresne, aber hetzte munter weiter und sagte eines Tages mit
Emphase:
»Wenn sich die Hausbesitzer noch weiter diese Versklavung gefallen lassen, so
halte ich sie alle zusammen für alberne Waschlappen und ich werde eine Stadt
verlassen, in der solche Zustände möglich sind.«
»Ja, was sollen wir nun tun«, meinte Herr Windholz kleinmütig, »wenn die
Regierung absolut unseren Wünschen nicht entsprechen will?«
»Was Sie tun sollen? Ich werde es Ihnen sagen! Heute noch trommeln Sie Ihren
Verein zusammen und fassen den Beschluß, der Regierung ein dreitägiges Ultimatum
zu stellen. Stellt sie bis dahin die Freizügigkeit im Wohnungsverkehr nicht
wieder her, so wird von den Hausbesitzern gestreikt! Sie führen keine Steuern
ab, unterlassen die Hausbeleuchtung und Reinigung, verweigern die Bezahlung der
Hypothekarzinsen, kurzum, Sie sabotieren den Staat!«
Herr Windholz war begeistert, umarmte den Franzosen und versicherte ihm, daß er
keinesfalls im Zinse gesteigert werden würde.
Es geschah ganz nach dem Programm des Herrn Dufresne. Der Verein der Wiener
Hausbesitzer beschloß einstimmig das Ultimatum und, die Regierung fiel um.
Vergebens versicherte Dr. Schwertfeger, daß die Aufhebung des
Mieterschutzgesetzes die unheilvollsten Folgen haben werde, er wurde von seinen
Ministerkollegen überstimmt. Wie die »Arbeiter-Zeitung« boshaft behauptete, in
erster Linie deshalb, weil der Finanzminister, der Unterrichtsminister und der
Handelsminister mehrfache Hausbesitzer waren.
Das Mieterschutzgesetz, das den Hausbesitzern sowohl die Kündigung der Mieter
als die willkürliche Erhöhung der Mietpreise untersagte, fiel also, und
vierundzwanzig Stunden später fand eine stürmische Generalversammlung der
Hausbesitzer statt, in der beschlossen wurde, die derzeitigen Mietpreise der
Teuerung halbwegs entsprechend auf das Tausendfache zu erhöhen. Eine Art
Rütlischwur verpflichtete zur unbedingten Einhaltung dieses Beschlusses.
Die Bevölkerung, die ja nur zum geringsten Teile aus Hausbesitzern besteht,
geriet in Tobsucht. Arbeiterfamilien mußten nunmehr Millionen im Jahre für ihre
Wohnung bezahlen, eine kleine Mittelstandswohnung kostete nicht unter fünfzig
Millionen. Die Organisation der Hausfrauen, die Gewerkschaften, der Verband der
Festangestellten, die Kriegsinvaliden und Kriegerswitwen, der Bund der
Gewerbetreibenden, sie alle veranstalteten Massendemonstrationen und durch volle
acht Tage wurde in Wien und den Provinzstädten überhaupt nicht gearbeitet,
sondern vom Morgen bis in die Nacht demonstriert. Die Zahl der eingeschlagenen
Fensterscheiben wuchs erschreckend, und zum erstenmal seit einer geraumen Anzahl
von Jahren hörte man auf der Straße den Ruf:
»Nieder mit der Regierung!«
Die christlichen Blätter ebenso wie die deutsch-nationalen verloren massenhaft
Leser, während der Weizen der »Arbeiter-Zeitung« wieder zu blühen begann.
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