Erster Teil
1. Kapitel
Das Antijudengesetz
Von der Universität bis zur Bellaria umlagerte das schöne, ruhige und vornehme
Parlamentsgebäude eine einzige Menschenmauer. Ganz Wien schien sich an diesem
Junitag um die zehnte Vormittagsstunde versammelt zu haben, um dort zu sein, wo
sich ein historisches Ereignis von unabsehbarer Tragweite abspielen sollte.
Bürger und Arbeiter, Damen und Frauen aus dem Volke, halbwüchsige Burschen und
Greise, junge Mädchen, kleine Kinder, Kranke im Rollwagen, alles quoll
durcheinander, schrie, politisierte und schwitzte. Und immer wieder fand sich
ein Begeisterter, der plötzlich an den Kreis um ihn herum eine Ansprache hielt
und immer wieder brauste der Ruf auf:
»Hinaus mit den Juden!«
Sonst pflegten bei ähnlichen Demonstrationen hier und dort Leute mit gebogener
Nase oder besonders schwarzem Haar weidlich verprügelt zu werden; diesmal kam es
zu keinem solchen Zwischenfall, denn Jüdisches war weit und breit nicht zu
sehen, und zudem hatten die Kaffeehäuser und Bankgeschäfte am Franzens- und
Schottenring, in weiser Erkenntnis aller Möglichkeiten, ihre Pforten geschlossen
und die Rollbalken herabgezogen.
Plötzlich zerriß ein einziges Aufbrüllen die Luft.
»Hoch Doktor Karl Schwertfeger, hoch, hoch, hoch! Hoch der Befreier
Österreichs!«
Ein offenes Auto fuhr langsam mitten durch die Menschenmassen hindurch, die
zurückdrängten und Bahn machten. Im Auto saß ein großer älterer Herr, dessen
mächtiger Schädel mit willkürlichen Büscheln weißer Haare bedeckt war.
Er nahm den grauen, weichen Schlapphut ab, nickte der jubelnden Menschenmenge zu
und verzerrte das Gesicht zu einem Lächeln. Aber es war ein saures Lächeln, das
von den zwei Falten, die von den Mundwinkeln abwärts liefen, gewissermaßen
dementiert wurde. Und die tiefliegenden grauen Augen blickten eher finster als
vergnügt drein.
Lachende Mädchen drängten sich vor, schwangen sich auf das Trittbrett, die eine
warf dem Gefeierten Blumen zu, eine andere war noch dreister, schlang ihren Arm
um seinen Hals und küßte den Dr. Schwertfeger auf die Wange. Als ob der
Chauffeur ahnte, wie seinem Herrn bei solchen Gefühlsausbrüchen zumute wurde,
ließ er das Auto vorwärts springen, so daß die Mädchen mit jähem Ruck nach
rückwärts fielen. Sie taten sich dabei nicht wehe, denn die Menschenmauer fing
sie auf.
Im Parlamentsgebäude herrschte nicht die laute Begeisterung der Straße, sondern
fieberhafte Erregung, zu stark, um Ausdruck nach außen zu finden. Die
Abgeordneten, die sich bis zum letzten Mann eingefunden hatten, die Minister,
die Saaldiener gingen schweigend und unruhig umher, sogar die überfüllten
Galerien verhielten sich lautlos.
In der Journalistenloge, in der es sonst am ungeniertesten zuzugehen pflegte,
wurde nur im Flüsterton gesprochen. Und eine bemerkenswerte räumliche Spaltung
hatte sich eingestellt. Die kompakte jüdische Majorität der Berichterstatter
drängte ihre Stühle zusammen, die Referenten der christlichsozialen und
deutschnationalen Blätter bildeten ihrerseits eine Gruppe. Sonst mischten sich
die jüdischen und christlichen Journalisten fröhlich durcheinander, im
Berufskreis war man nicht Parteigänger, sondern nur der Herr Kollege, und da die
jüdischen Journalisten gewöhnlich mehr Neuigkeiten wußten und sie besser
verwerten konnten, standen die antisemitischen zu ihnen in einem starken
Abhängigkeitsverhältnis. Heute aber flogen hämische Blicke von der christlichen
Ecke in die jüdische, und als der kleine Karpeles von der »Weltpost«, der eben
erst eingetreten war, den Dr. Wiesel von der »Wehr« mit »Servus, Herr Kollege!«
begrüßte, wandte ihm dieser ohne Erwiderung den Rücken.
Es drängten immer noch Journalisten herein, darunter Vertreter ausländischer
Zeitungen, die heute in Wien angekommen waren.
»Nicht rühren kann man sich«, brummte der Herglotz vom christlichen »Tag«,
worauf ihm ein Kollege mit kleinem, bärtigem Kopf und mächtigem Bierbauch
erwiderte:
»Na, ein paar Tage noch und wir werden hier Platz genug haben!«
Hüsteln, Lächeln, Lachen auf der einen Seite, gegenseitige bedeutungsvolle
Blicke auf der anderen.
Ein junger blonder Herr mit roten Backen machte nach links und rechts eine
leichte Verbeugung.
»Holborn vom ›London Telegraph‹! Bin eben vor einer Stunde angekommen und kenne
mich wahrhaftig nicht aus. Vorgestern kam ich aus Sidney nach halbjähriger
Abwesenheit in London an, eine Stunde später saß ich wieder im Zug, um nach Wien
zu fahren. Unser Managing-Editor, das Kamel, hat mir nichts gesagt, als: In Wien
wird es jetzt lustig, da schmeißen sie die Juden hinaus! Fahren Sie hin und
berichten Sie, daß das Kabel reißt! Also bitte, wäre sehr nett von Ihnen, wenn
Sie mich rasch instruieren wollten.«
Das alles war in so drolligem Englisch-Deutsch herausgekommen, daß sich die
Spannung ein wenig löste. Minkus vom »Tagesboten« bemächtigte sich, heftig
gestikulierend, des englischen Kollegen und begann mit den Worten:
»Also, ich werde Ihnen alles genau erklären –.« Aber Dr. Wiesel ließ ihn nicht
weitersprechen. »Sie verzeihen, aber diese Aufklärung wird besser von
uns ausgehen.«
Tonfall drohend, das »uns« bedeutungsvoll unterstrichen. Und schon befand sich
Holborn in der christlichen Ecke, wo Wiesel kurz und sachlich erklärte:
»Was geschehen soll, werden Sie sofort aus dem Munde unseres Bundeskanzlers
Doktor Karl Schwertfeger erfahren, der das Gesetz zur Ausweisung aller
Nichtarier aus Österreich eingehend begründen wird. Die Vorgeschichte ist, kurz
gesagt, folgende: Nach der sogenannten Sanierung, die zwei Jahre andauerte,
gerieten die Finanzen Österreichs wieder in Unordnung. Als die österreichische
Krone auf den Wert eines zweihundertstel Centimes herabgesunken war, begann das
Chaos einzutreten. Ein Ministerium nach dem anderen mußte gehen, es entstanden
Unruhen, täglich kam es zu Plünderungen der Geschäfte, zu Pogromen, die Wut und
Verzweiflung der Bevölkerung kannte keine Grenzen mehr und schließlich mußte zu
Neuwahlen geschritten werden. Die Sozialdemokraten traten ohne neues Programm in
den Wahlkampf, die Christlichsozialen hingegen scharten sich um ihren
geistvollen Führer Doktor Karl Schwertfeger, dessen Losungswort lautete: Hinaus
mit den Juden aus Österreich! Nun, vielleicht ist es Ihnen bekannt«, – Holborn
nickte, obwohl er keine Ahnung hatte – »daß die Wahlen den völligen
Zusammenbruch der Sozialdemokraten, Kommunisten und Liberalen brachten. Selbst
die Arbeitermassen wählten unter der Parole ›Hinaus mit den Juden!‹, und die
sozialistische Partei, vordem relativ die stärkste, konnte knapp elf Mandate
retten. Die Großdeutschen aber, die gut abschnitten, hatten sich ebenfalls auf
das ›Hinaus mit den Juden!‹ eingestellt.
Nun, der Genialität des Doktor Schwertfeger, seiner unerschrockenen Energie,
seiner kühnen Impetuosität und Beredsamkeit gelang es, dem Völkerbund, der vor
die Alternative Anschluß Österreichs an Deutschland oder Gewährenlassen gestellt
war, die Zustimmung zur großen Judenausweisung abzuringen. Und jetzt wird
Schwertfeger selbst das Gesetz einbringen, das sicher angenommen werden wird.
Sie sind also Zeuge eines historischen –.«
»Pst!«-Rufe wurden laut. Wiesel konnte nicht weiterreden, denn der Präsident des
Hauses, ein Tiroler mit rötlichem Vollbart, schwang die Glocke und erteilte dem
Bundeskanzler das Wort.
Grabesstille, in der das Surren der Ventilatoren unheimlich klang. Das leiseste
Räuspern, das Rascheln der Papiere in der Journalistenloge wurde gehört und
empfunden.
Übergroß, trotz des vorgebeugten Schädels und gewölbten Rückens, stand der
Bundeskanzler auf der Rednertribüne, die Hände, zu Fäusten geballt, stützten
sich auf das Pult, unter den grauen, buschigen Brauen glitzerten die scharfen
Augen über den Saal hinweg. So stand er bewegungslos, bis er plötzlich den
Schädel ins Genick warf und mit seiner mächtigen Stimme, die sich in den
turbulentesten Versammlungen immer hatte Gehör erzwingen können, begann:
»Verehrte Damen und Herren! Ich lege Ihnen jenes Gesetz und jene Änderungen
unserer Bundesverfassung vor, die gemeinsam nichts weniger bezwecken, als die
Ausweisung der nichtarischen, deutlicher gesagt, der jüdischen Bevölkerung aus
Österreich. Bevor ich das tue, möchte ich aber einige rein persönliche
Bemerkungen machen. Seit fünf Jahren bin ich der Führer der christlichsozialen
Partei, seit einem Jahr durch den Willen der überwiegenden Mehrheit dieses
Hauses Bundeskanzler. Und durch diese fünf Jahre hindurch haben mich die
sogenannten liberalen Blätter wie die sozialdemokratischen, mit einem Wort alle
von Juden geschriebenen Zeitungen, als eine Art Popanz dargestellt, als einen
wütenden Judenfeind, als einen fanatischen Hasser des Judentums und der Juden.
Nun, gerade heute, wo die Macht dieser Presse ihrem unwiderruflichen Ende
entgegengeht, drängt es mich, zu erklären, daß das alles nicht so ist. Ja, ich
habe den Mut, heute von dieser Tribüne aus zu sagen, daß ich viel eher
Judenfreund als Judenfeind bin!«
Ein Murmeln und Surren ging durch den Saal, als flöge eine Schar Vögel aus dem
Felde auf.
»Ja, meine Damen und Herren, ich bin ein Schätzer der Juden, ich habe, als ich
noch nicht den heißen Boden der Politik betreten, jüdische Freunde gehabt, ich
saß einst in den Hörsälen unserer Alma mater zu Füßen jüdischer Lehrer, die ich
verehrte und noch immer verehre, ich bin jederzeit bereit, die autochthonen
jüdischen Tugenden, ihre außerordentliche Intelligenz, ihr Streben nach
aufwärts, ihren vorbildlichen Familiensinn, ihre Internationalität, ihre
Fähigkeit, sich jedem Milieu anzupassen, anzuerkennen, ja zu bewundern!«
»Hört! Hört!«-Rufe wurden laut, sensationelle Spannung bemächtigte sich der
Abgeordneten und des Auditoriums, und der englische Journalist Holborn, der
nicht alles verstanden hatte, fragte interessiert den Dr. Wiesel, ob der Mann da
unten der Vertreter der Judenschaft sei.
Der Kanzler fuhr fort.
»Trotzdem, ja gerade deshalb wuchs im Laufe der Jahre in mir immer mehr und
stärker die Überzeugung, daß wir Nichtjuden nicht länger mit, unter und neben
den Juden leben können, daß es entweder Biegen oder Brechen heißt, daß wir
entweder uns, unsere christliche Art, unser Wesen und Sein oder aber die Juden
aufgeben müssen. Verehrtes Haus! Die Sache ist einfach die, daß wir
österreichische Arier den Juden nicht gewachsen sind, daß wir von einer kleinen
Minderheit beherrscht, unterdrückt, vergewaltigt werden, weil eben diese
Minderheit Eigenschaften besitzt, die uns fehlen! Die Romanen, die Angelsachsen,
der Yankee, ja sogar der Norddeutsche wie der Schwabe – sie alle können die
Juden verdauen, weil sie an Agilität, Zähigkeit, Geschäftssinn und Energie den
Juden gleichen, oft sie sogar übertreffen. Wir aber können sie nicht verdauen,
uns bleiben sie Fremdkörper, die unseren Leib überwuchern und uns schließlich
versklaven. Unser Volk kommt zum überwiegenden Teil aus den Bergen, unser Volk
ist ein naives, treuherziges Volk, verträumt, verspielt, unfruchtbaren Idealen
nachhängend, der Musik und stiller Naturbetrachtung ergeben, fromm und bieder,
gut und sinnig! Das sind schöne, wunderbare Eigenschaften, aus denen eine
herrliche Kultur, eine wunderbare Lebensform sprießen kann, wenn man sie
gewähren und sich entwickeln läßt. Aber die Juden unter uns duldeten diese
stille Entwicklung nicht. Mt ihrer unheimlichen Verstandesschärfe, ihrem von
Tradition losgelösten Weltsinn, ihrer katzenartigen Geschmeidigkeit, ihrer
blitzschnellen Auffassung, ihren durch jahrtausendelange Unterdrückung
geschärften Fähigkeiten haben sie uns überwältigt, sind unsere Herren geworden,
haben das ganze wirtschaftliche, geistige und kulturelle Leben unter ihre Macht
bekommen.«
Brausende »Bravo!«-Rufe. »Sehr richtig!« »So ist es!«
Dr. Schwertfeger führte mit der knochigen Rechten das Glas zu den dünnen Lippen
und sein halb spöttischer, halb befriedigter Blick kreiste im Saal.
»Sehen wir dieses kleine Österreich von heute an. Wer hat die Presse und damit
die öffentliche Meinung in der Hand? Der Jude! Wer hat seit dem unheilvollen
Jahre 1914 Milliarden auf Milliarden gehäuft? Der Jude! Wer kontrolliert den
ungeheuren Banknotenumlauf, sitzt an den leitenden Stellen in den Großbanken,
wer steht an der Spitze fast sämtlicher Industrien? Der Jude! Wer besitzt unsere
Theater? Der Jude! Wer schreibt die Stücke, die aufgeführt werden? Der Jude! Wer
fährt im Automobil, wer praßt in den Nachtlokalen, wer füllt die Kaffeehäuser,
wer die vornehmen Restaurants, wer behängt sich und seine Frau mit Juwelen und
Perlen? Der Jude!
Verehrte Anwesende! Ich habe gesagt, daß ich den Juden, an sich und objektiv
betrachtet, für ein wertvolles Individuum halte und ich bleibe dabei. Aber ist
nicht auch der Rosenkäfer mit seinen schimmernden Flügeln ein an sich schönes,
wertvolles Geschöpf und wird er von dem sorgsamen Gärtner nicht trotzdem
vertilgt, weil ihm die Rose näher steht als der Käfer? Ist nicht der Tiger ein
herrliches Tier, voll von Kraft, Mut und Intelligenz? Und wird er nicht doch
gejagt und verfolgt, weil es der Kampf um das eigene Leben erfordert? Von diesem
und nur von diesem Standpunkt kann bei uns die Judenfrage betrachtet werden.
Entweder wir oder die Juden! Entweder wir, die wir neun Zehntel der Bevölkerung
ausmachen, müssen zugrunde gehen oder die Juden müssen verschwinden! Und da wir
jetzt endlich die Macht in den Händen haben, wären wir Toren, nein, Verbrecher
an uns und unseren Kindern, wenn wir von dieser Macht nicht Gebrauch machen und
die kleine Minderheit, die uns vernichtet, nicht vertreiben wollten. Hier
handelt es sich nicht um Schlagworte und Phrasen, wie Menschlichkeit,
Gerechtigkeit, Toleranz, sondern um unsere Existenz, unser Leben, das Leben der
kommenden Generationen! Die letzten Jahre haben unser Elend vertausendfacht, wir
stehen mitten im vollen Staatsbankerott, wir gehen der Auflösung entgegen, ein
paar Jahre noch und unsere Nachbarn werden unter dem Vorwand, bei uns Ordnung
schaffen zu müssen, über uns herfallen und unser kleines Land in Stücke
zerreißen – unberührt von allen Geschehnissen aber werden die Juden blühen,
gedeihen, die Situation beherrschen und, da sie ja nie Deutsche im Herzen und im
Blut waren, unter den geänderten Verhältnissen Herren bleiben, wenn wir Sklaven
sind!«
Das ganze Haus geriet jetzt in furchtbare Aufregung. Wilde Rufe wurden
ausgestoßen. »Das darf nicht sein! Retten wir uns und unsere Kinder!« Und als
Echo klang es von der Straße her aus zehntausend Kehlen. »Hinaus mit den Juden!«
Dr. Schwertfeger ließ die Erregung auslaufen, nahm von den Ministerkollegen
Händedrücke entgegen und sprach dann über die Durchführung des Gesetzes. Gemäß
den Forderungen der Menschlichkeit und den Bedingungen des Völkerbundes würde
mit größter Milde und Gerechtigkeit vorgegangen werden. Jeder habe das Recht,
sein Vermögen mitzunehmen, soweit es aus Bargeld und Wertpapieren oder Juwelen
bestehe, Immobilien zu veräußern, sein Geschäft freihändig zu verkaufen.
Unternehmungen, die nicht veräußerlich seien, würden vom Staat übernommen
werden, und zwar derart, daß nach dem Steuerbekenntnis des letzten Jahres der
Reinertrag fünfprozentig kapitalisiert werden würde. Hätte also zum Beispiel ein
Unternehmen im vergangenen Jahr eine halbe Million Reinertrag aufgewiesen, so
würde es mit zehn Millionen abgelöst werden. Ein boshaftes Lächeln kräuselte die
Lippen des Kanzlers.
»Natürlich sind sowohl bei diesen Ablösungen als auch bei der Erlaubnis zur
Mitnahme von Bargeld lediglich die Steuerbekenntnisse maßgebend. Hat sich jemand
als Vermögensloser bekannt, so darf er kein Geld ausführen, besitzt er trotzdem
Vermögen, so wird dieses natürlich konfisziert. Hat jemand den Reinertrag seines
Geschäftes mit einer halben Million beziffert, so darf er zehn Millionen
mitnehmen, auch wenn sich herausstellen sollte, daß sein wirkliches Einkommen
zehnmal so groß war. Auf diese Art wird sich manche Sünde bitter rächen –«,
bemerkte der Redner unter schallender Heiterkeit der Anwesenden. Er fuhr dann
fort: »Festbesoldete und geistige Arbeiter, die tatsächlich vermögenslos sind,
wie zum Beispiel Ärzte, erhalten vom Staat den Betrag zur Fortreise, den sie als
Jahreseinkommen versteuert hatten. Gab also ein Arzt sein Einkommen mit
dreihunderttausend an, so erhält er diese Summe. Um jede anderweitige
Steuerflucht zu verhüten, enthält das Gesetz die drakonische Bestimmung, daß der
Versuch, größere als erlaubte Summen fortzuschleppen, mit dem Tode zu bestrafen
sei. Ebenso ist die Todesstrafe über die Juden oder Judenstämmlinge verhängt,
die den Versuch machen, sich auch weiterhin heimlich in Österreich aufzuhalten.
Das Gesetz soll in folgender Weise durchgeführt werden:
Nichtprotokollierte Kaufleute, Händler und sogenannte Agenten müssen innerhalb
dreier Monate nach Annahme des Gesetzes die Grenzen verlassen, protokollierte
Firmeninhaber, Angestellte, Beamte und manuelle Arbeiter innerhalb von vier
Monaten, Künstler, Gelehrte, Ärzte, Rechtsanwälte und so weiter innerhalb von
fünf Monaten. Direktoren von Aktienunternehmungen, Banken und Industrien, die im
letzten Jahre ein Einkommen von mehr als zweihundert Millionen versteuert haben,
ist eine Frist von einem halben Jahr gegeben.
Und nun komme ich zu einem wichtigen Punkt, dem ich die volle Aufmerksamkeit zu
schenken bitte. Wie Sie wissen, bezieht sich das Ausweisungsgesetz nicht nur auf
Juden und getaufte Juden, sondern auch auf Judenstämmlinge. Als Judenstämmling
gelten die Kinder aus Mischehen. Hat also zum Beispiel eine Christin rein
deutscharischer Abstammung einen Juden geheiratet, so trifft die Ausweisung ihn
und die Kinder aus dieser Ehe, während es der Frau unbenommen bleibt, in
Österreich zu verweilen. Nach reiflicher Überlegung hat die Regierung
beschlossen, die Kindeskinder aus Mischehen nicht mehr als Judenstämmlinge,
sondern als Arier zu betrachten. Hat also ein Christ eine Jüdin geheiratet, so
werden wohl die Kinder ausgewiesen, die Kindeskinder aber, vorausgesetzt, daß
die Eltern sich nicht wieder mit Juden gemischt haben, können im Lande bleiben.
Dies ist aber auch die absolut einzige Konzession, die das Gesetz macht. Andere
Ausnahmen sind nicht zulässig. Von vielen Seiten wurde uns nahegelegt, gewisse
Ausnahmen gelten zu lassen. So sollte das Gesetz Leute über ein gewisses Alter
hinaus, Kranke, Schwächliche und solche Juden, die besondere Verdienste um den
Staat haben, nicht treffen.
Meine Damen und Herren! Hätte ich diesen Ratgebern nachgegeben, so würde das
ganze Gesetz zur Posse geworden sein. Das jüdische Geld, jüdischer Einfluß
hätten Tag und Nacht gearbeitet, Zehntausende von Ausnahmsfällen würden
konstruiert werden und in fünfzig Jahren wären wir genausoweit wie heute. Nein,
es gibt keine Ausnahme, es gibt keine Protektion, es gibt kein Mitleid und kein
Augenzudrücken! Für Hinfällige und Kranke wird die Regierung prachtvolle
Spitalzüge zur Verfügung stellen, und nur solche Juden, die nach
gerichtsärztlichem Gutachten absolut nicht transportfähig sind, werden hier ihre
Genesung oder ihren Tod abwarten dürfen.«
Dr. Schwertfeger verbeugte sich leicht und ließ sich schwerfällig auf seinem
Sitz nieder. Die Wirkung seiner letzten Eröffnung war aber ganz eigenartig
gewesen. Nur vereinzelte Bravo-Rufe waren laut geworden, eine gewisse
Beklommenheit machte sich fast körperlich fühlbar, auf vielen Gesichtern malte
sich deutlich Schrecken und Angst, auf der Galerie entstand Unruhe, eine Frau
fiel mit dem Ruf. »Meine Kinder!« ohnmächtig zusammen, und als der Kanzler
geendet, erdröhnte zwar starker Beifall, aber die kleine Gruppe der
Sozialdemokraten schrie unisono »Unerhört! Pfui! Skandal!«.
Und nun erteilte der Präsident mit dem roten Bart dem Finanzminister Professor
Trumm das Wort. Trumm war klein, verhutzelt wie eine halbgedörrte Pflaume, er
sprach im Diskant und mußte sich jedesmal unterbrechen, wenn seine Zunge
zwischen dem Gaumen und dem oberen Rand des falschen Gebisses steckenblieb.
Unter großer Spannung erörterte er die finanzielle Seite des
Ausweisungsgesetzes. Natürlich würde die Ablösung der jüdischen Geschäfte und
Immobilien nicht nur das christliche Privatkapital, sondern auch die Mittel des
Staates stark in Anspruch nehmen. Tausende von Milliarden Kronen würden kaum
ausreichen, und man dürfe sich nicht verhehlen, daß die Ausweisung der Juden
zunächst allerlei finanzielle Schwierigkeiten im Gefolge haben werde.
»Aber, gottlob«, der Finanzminister bekreuzigte sich – »wir werden in den
kommenden schweren Tagen nicht allein stehen! Ich kann dem Hohen Hause die
erfreuliche Mitteilung machen, daß sich das echte wahre Christentum der ganzen
Welt gesammelt hat, um uns zu helfen. Nicht nur, daß die österreichische
Regierung seit Monaten internationale Verhandlungen führt, auch der Piusverein
hat in aller Stille eine mächtige Agitation entfaltet, die glänzende Früchte
trägt. Der Verband des erwachten Christentums der skandinavischen Länder, dem
viele große Bankiers und Kaufleute angehören, stellt uns einen gewaltigen Kredit
in dänischer, schwedischer und norwegischer Valuta zur Verfügung, der
amerikanische Industriekönig Jonathan Huxtable, einer der reichsten Männer der
Welt und ein begeisterter Streiter in Christo, hat sich bereit erklärt, zwanzig
Millionen Dollar in Österreich anzulegen, der französische Christenbund macht
hundert Millionen Francs mobil – kurzum, es werden Milliarden Kronen ins Ausland
wandern müssen und dafür Milliarden in Gold einströmen!«
Riesige Begeisterung im ganzen Hause. Einige Dutzend Abgeordnete verließen
fluchtartig den Sitzungssaal und stürmten die Telephone, um ihren Banken
Verkaufsorders für fremde Valuten zu geben. Die Hauszentrale konnte das
stürmische Begehren nach Verbindungen mit »Karpeles & Co.«, »Veilchenfeld &
Sohn«, »Rosenstrauch & Butterfaß«, »Kohn, Cohn & Kohen« und wie alle die großen
Bankhäuser hießen, kaum bewältigen. Während aber der Finanzminister, der eine
volle Minute gebraucht hatte, um seine eingeklemmte Zunge zu befreien, fortfuhr,
erzählte der Engländer Holborn in der Journalistenloge grinsend:
»Jonathan Huxtable ist ein frommer Kerl! Er spuckt Gift und Galle gegen die
Juden, seitdem ihm seine Frau mit einem jüdischen Preisboxer durchgegangen ist.
Er ist ein strenger Temperenzler, aber er besäuft sich jeden Tag mit
Magentropfen, die er aus der Apotheke bezieht. Einmal hat man gesehen, wie er
eine ganze Flasche Eau de Cologne auf einen Zug austrank. Und wenn er hier
zwanzig Millionen investieren wird, will er sicher fünfzig daran verdienen.«
Dr. Wiesel schnitt ein abweisendes Gesicht, während die jüdischen Journalisten
sich rasch Notizen machten, um letzte Bosheiten zu publizieren.
Die Pro- und Kontra-Redner meldeten sich zu Wort. Die Sozialdemokraten sprachen
gegen das Gesetz. Als aber ihr Führer Weitherz in ruhigen und sachlichen Worten
seiner Entrüstung Ausdruck gab und den Gesetzentwurf als ein Dokument
menschlicher Schmach bezeichnete, entstand ein furchtbarer Tumult, die Galerie
warf mit Schlüsseln und Papierknäueln nach den Sozialdemokraten, es kam zu einer
Prügelei, und die kleine Opposition verließ unter Protest den Saal. Der
christlichsoziale Abgeordnete Pfarrer Zweibacher pries Dr. Schwertfeger als
modernen Apostel, der würdig sei, dereinst heilig gesprochen zu werden, die
großdeutschen Abgeordneten Wondratschek und Jiratschek aber beleuchteten das
Gesetz lediglich vom Rassenstandpunkt, und Jiratschek, der stark mit böhmischen
Akzent sprach, schluchzte vor Ergriffenheit und schloß mit den Worten:
»Wotan weilt unter uns!«
Als letzter Redner ergriff unter Hepp!-Hepp!-Rufen und höhnischem
Aih-Wai!-Geschrei der einzige zionistische Abgeordnete, Ingenieur Minkus
Wassertrilling, das Wort. Der schlanke, große und hübsche junge Mann wartete mit
verschränkten Armen ab, bis Ruhe eintrat, dann sagte er:
»Verehrte Jünger jenes Juden, der sich, um die Menschheit zu erlösen,
törichterweise ans Kreuz hatte schlagen lassen!«
Stürmische Unterbrechung: »Hinaus mit den Juden!«
»Jawohl, meine Herren, ich stimme mit Ihnen in den Ruf: ›Hinaus mit den Juden!‹
ein und werde mit freudigem Herzen dem Gesetz meine Stimme geben. Wir Zionisten
begrüßen dieses Gesetz, das ganz unseren Zielen und Tendenzen entspricht. Von
der halben Million Juden, die das Gesetz trifft, wird sich wohl die Hälfte unter
dem zionistischen Banner vereinigen, die anderen werden, wie ich weiß, in
Frankreich und England, in Italien und Amerika, in Spanien und den Balkanländern
willig Aufnahme finden. Mir ist um das Schicksal meines Volkes nicht bange, zum
Segen wird das werden, was hier gehässige Bosheit und Dummheit als Fluch gedacht
hat.«
Der Tumult, der sich erhob, verschlang die weiteren Worte und schließlich wurde
auch der Zionist aus dem Saal gedrängt. So ergab denn die Abstimmung, die
namentlich erfolgte, die einstimmige Annahme des Gesetzes, das noch am selben
Tag durch den Ausschuß und die zweite und dritte Lesung gepeitscht wurde.
Als die Abgeordneten spät abends endlich das Haus verlassen konnten, sahen sie
ein festlich beleuchtetes Wien. Von allen öffentlichen Gebäuden wehten die
weiß-roten Fahnen, Feuerwerke wurden abgebrannt, bis lange nach Mitternacht
dauerten die Umzüge der Menschenmassen, die immer vor das Kanzlerpalais
marschierten, um Dr. Schwertfeger hoch leben zu lassen und als Befreier
Österreichs zu preisen... |